„Die digitale Zeitung wird reüssieren“

Der Trendforscher Eike Wenzel sieht im Medienumbruch große Marktchancen für die Verlage. Im Interview nennt er die USPs der Zeitung und zeigt Zukunftsszenarien.

Dr. Eike Wenzel, Gründer und Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung in Heidelberg, ist einer der renommiertesten deutschen Zukunftsforscher. Er spürt auf, wie wir morgen leben – und mit welchen Medien wir uns umgeben. Im Interview nimmt er Stellung zur Zukunft der Zeitung.

Herr Wenzel, selten zuvor wurde die Zeitung als Gattung so intensiv diskutiert wie aktuell. Wie schätzen Sie die Szenarien ein?

Die Erregungsmedien gieren nach einem Opfer. Die Zeitungen sollen es sein. Dieses Mal endgültig, weil die meisten von ihnen – aus historischer Zufälligkeit – nach wie vor noch auf einfältigem Papier gedruckt werden. Bizarrer Weise sind es die Zeitungen, die diesen Klagegesang selbst jahrelang mitgesungen haben.

Natürlich haben die elektronischen Medien ein verstärktes Interesse daran, die Zeitungen, die noch nicht komplett digitalisiert sind, in den Mülleimer der Geschichte zu kloppen. Aber so einfach funktionieren Veränderungen nicht. Wer glaubt, er könnte auf eine gesellschaftliche Institution wie die Zeitung mal eben schnell verzichten, der vergisst, dass u.a. ein Nachrichtendienst wie Twitter mit seinen „Inhalten“ fast komplett von der kostenlosen Zulieferung der ach so veralteten Printmedien lebt.

In den USA beginnt die Börse positiv auf die Zeitungen zu reagieren, weil sich allmählich zeigt, dass Paid-Content-Modelle funktionieren. In der ACTA ist nachzulesen, dass der Bann gebrochen ist und bezahlter Content gekauft wird.

Die digitale Zeitung wird reüssieren,
aber es wird nicht das eine neue Geschäftsmodell sein,
das das andere ablöst.

 Sie sind ein ausgewiesener Experte in Sachen Trendforschung.  Wie wird sich das Produkt Tageszeitung und seine Leserschaft in den kommenden Jahren entwickeln?

In Kooperation mit der GfK haben wir eine Nutzertypologie aus der Lebensstil-Matrix des ITZ entwickelt. Wir unterscheiden drei Nutzertypen, die Zeitung auch 2020 und darüber hinaus mit großem Interesse nutzen, das Medium in den kommenden Jahren aber auch radikal verändern werden.

Da ist zum einen das so genannte „iPad-Bürgertum“, eine große Gruppe, zwischen 25 und 50 Jahren, die – egal auf Papier oder mit dem iPad – Zeitung als Vertiefungs- und Welterklärungsmedium nutzen. Wertebewusst, trotzdem modern und mit einer extrem hohen Zeitungsloyalität ausgestattet. Dann gibt es die „Hyperlocals“, die wir ebenfalls sehr altersunabhängig (zwischen 25 und 75) in der Lebensstil-Matrix vorfinden. Hyperlocals sehnen sich nach Vertrautheit und einer neuen Heimatvorstellung, bei der sie aktiv mitgestalten können. Heimat 2.0 heißt für sie: Teilhaben. Doch damit verlangen sie, dass Regionalzeitung nicht mehr nur durch den Briefkasten kommt und eigentlich kein klassisches Massenmedium mehr ist, sondern SoLoMo stattfinden soll: sozial, lokal, mobil. Das ist eigentlich eine Schlüsseldefinition für das Internet in den kommenden Jahren, aber die Zeitung kann auch hier Pflöcke einschlagen, wie wir glauben.

Als dritter Nutzertypus schließlich die Infoelite 2.0. Das sind insbesondere junge Entscheider, die selbstverständlich Online-Heavyuser sind, hochgradig vernetzt auftreten, aber eine klare Entscheidungsgrundlage brauchen. Dafür greifen sie vor allem auf Printmedien zurück  - die sie jedoch in hohem Maße online wahrnehmen. Sie suchen Vertrauensmarken im Info-Tsunami und kommen deshalb immer wieder auf die Zeitungen zurück.

Wie müssen sich Zeitungsverlage aufstellen, um auch in 20 Jahren noch relevant für den Leser- wie den Werbemarkt zu sein?

Der Wandel, den wir erleben, ist stürmisch, aber es gibt keinen Anlass zu erweitertem Pessimismus. Man muss den Wandel jedoch genau beobachten. Dann stellt man unter anderem fest, dass selbst eine junge boomende Branche wie der e-Commerce das Medium Zeitung außerordentlich schätzt. Kataloge und Printanzeigen gelten weiterhin als unerlässliche Kaufinspiration für Online-Shopping, wie das EHI herausgefunden hat.

Gut aufgestellte Zeitungshäuser denken schon seit Jahren über den digitalen Wandel nach. Sie wissen: Print als das Kerngeschäft moderner Medienhäuser gehört 2030 der Vergangenheit an. Es ist relativ trivial, dass wir künftig von individualisierteren Zeitungskonzepten für eine immer anspruchsvollere Zielgruppe bei weiter zunehmendem Wettbewerb im Netz ausgehen müssen.

Ergeben sich daraus neue Geschäftsmodelle, die den Verlagen nennenswerten Ertrag bringen?

Nehmen wir ein Beispiel aus den USA. Ein Regionalzeitung wie die Deseret News aus Salt Lake City hat sich zunächst von 100 auf 50 Mitarbeiter geschrumpft, um mit Megatrendthemen wie Familie 2.0, Gesundheit und anderen spannenden Regionalangeboten individualisierte Angebote im Netz zu machen. Die Deseret News hat mittlerweile mehr als 300 Mitarbeiter. 

Ein weiterer spannender Trend: „The Texas Tribune“ ist die Online-Zeitung einer Nichtregierungsorganisation. Die haben gemerkt, dass sie mit ihrer Zeitung bei ganz bestimmten Megathemen wie Wasser, Energie, Nachhaltigkeit eine hohe Glaubwürdigkeit haben. Zu diesen Themenrichten sie jetzt regional regelmäßig Konferenzen aus. Umsatz bei diesem Zusatzgeschäft im ersten Jahr: 900.000 US-Dollar.

Und weiter: Wer verdient am e-Commerce? Bislang eigentlich nur Amazon. Wo ist die deutsche Antwort auf den Sachverhalt, dass wir bis 2020 im Netz eine Konsumrevolution erleben werden? Wer hat Nähe und Loyalität zum Kunden, um hier zu konkurrieren? Ich denke, vor allem auch die Tageszeitungen. Ob regional oder national, beim Thema e-Commerce sollte jetzt sofort mit dem Handel geredet werden, der bislang digital auch kein Bein auf den Boden bekommt. Die ACTA 2012 belegt, dass das Misstrauen bei Käufen im Internet nach wie vor in hohem Maße vorhanden ist.

Die Zeitungen können sich nach wie vor
auf die Zukunftsressource Vertrauen und Glaubwürdigkeit stützen.
Ich sehe da große Marktchancen.

Sehen Sie in Social Media Plattformen und anderen Playern wie Google, Facebook, Apple & Co. eine Konkurrenz für die Zeitungsverlage?

Natürlich ist und wird das eine relevante Konkurrenz. Aber dies aus einem einzigen Grund: Auch Apple, Google, Samsung etc. werden in Zukunft vor allem Inhalte im Netz verkaufen wollen. Ein Technologieriese wie Samsung hat kürzlich ausdrücklich angekündigt, in den Verkauf von digitalen Inhalten einsteigen zu wollen. Gute journalistische und künstlerische Inhalte sind DER Zukunftsmarkt, nicht nur für die Zeitungen. Das heißt aber auch, dass spätestens jetzt das Wettrennen um die besten Köpfe und Inhalte beginnen sollte. Auch deswegen sollten wir uns nicht mit dieser kleinkarierten Debatte aufhalten, ob Zeitung, Diskurs, Öffentlichkeit zukünftig auf Papier oder elektronisch stattfindet. Künftig heißt es: Wer hat die besten Inhalte und die klügste Infrastruktur, um beim Kunden die Nummer eins zu sein.

Welche Kernqualitäten - USPs - zählen zu den Stärken der Zeitung, die die Gattung auch künftig attraktiv für Werbetreibende machen?

Die Menschen erleben momentan eine starke Verunsicherung: Nachrichten und Informationen gibt es überall. Aber – so das Gefühl vieler Menschen, mit denen wir geredet haben: Niemand erklärt, was die uns um die Ohren fliegenden Megatrends und krisenhaften Zuspitzungen wirklich zu bedeuten haben. Zeitungen haben eine hohe Kompetenz und das Alleinstellungsmerkmal, die sich verändernde Welt sinnvoll zu erklären. Diesen Glaubwürdigkeitskredit haben die Zeitungen, wie wir feststellen konnten, übrigens nicht nur bei den Erwachsenen oder den Intellektuellen, sondern vor allem auch bei den Jungen.

Die Info-Elite 2.0 sucht in den Tageszeitungen ein Vertiefungsmedium, das dabei behilflich ist, Entscheidungen auf fundierter Basis zu fällen. Wenn sie Entscheider sind und permanent über wichtige Dinge befinden, brauchen sie Verlässlichkeit und darüber hinaus so etwas wie ein Entschleunigungsmilieu – genau das werden viele in Zukunft weiterhin vor allem bei der Zeitung suchen.

Das Interview erschien im Newsletter DIE ZEITUNGEN am 6. Dezember 2012. Die Ausgabe finden Sie hier.