Interview Hans Georg Stolz

„Vieles an Werbewirkung verpufft“

Medien werden immer vielfältiger, immer schneller, durchdringen den Alltag immer mehr. Wenn aber immer mehr Kanäle immer flüchtiger genutzt werden, kann das kaum folgenlos für die Werbebotschaften bleiben. Vor diesem Hintergrund will die aktuelle Fachkampagne der Zeitungen zeigen, dass die Zeitung von der intensiven und konzentrierten Nutzung profitiert. Prof. Hans Georg Stolz hat im Interview 2014 erläutert, was das für die Werbung und ihre Wirkung bedeutet.

Mit den digitalen Kanälen wächst das Medienangebot exponentiell. Damit wachsen auch die Möglichkeiten, Werbung auf unterschiedlichen Kanälen auszuspielen. Wie schätzen Sie diesen Prozess ein und  was bedeutet er für Werbungtreibende?

Zunächst einmal bedeutet diese Medienatomisierung einerseits eine flexiblere und Zielgruppen-treffsichere Ansprache, andererseits eine tiefe Verunsicherung, da das Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag sich verschlechtert und gelernte Wirkungskomponenten nicht mehr nachweisbar sind. Ein Rückzug zur Glaubensfrage, was den Werbetreibenden zunehmend Kopfschmerzen bereitet.

Es gibt Medien, die eher punktuell, zwischendurch und parallel zu anderen Tätigkeiten und Medien genutzt werden. Und es gibt Medien, die zu intensiver und konzentrierter Nutzung einladen. Sie verlangen Zeit und ungeteilte Aufmerksamkeit. Wo sehen Sie die Stärken dieser beiden Ausprägungsformen und lassen sich daraus Konsequenzen für die Werbung und ihre Wirkung ableiten?

Wirkung von Werbung folgt klaren Mechanismen, die Rechnung wird allerdings oft ohne den Menschen bzw. Konsumenten gemacht. Nur er entscheidet autonom und momentbezogen, ob er sich einem Wirkungs- oder Handlungsangebot unterwirft oder nicht. Hier kommen wir zur situativen Komponente, die man nicht unterschätzen darf. Es liegt auf der Hand, dass der ausgeruhte, sich in einem balancierten Zustand befindliche Mediennutzer sowohl souveräner wie auch achtsamer und konzentrierter mit Medien umgeht, Informationen und Eindrücke an sich heranläßt oder sie resiliert, sprich: an sich abprallen läßt. Ist er bereit eine Botschaft zu absorbieren, entstehen neue „Zellen“ und damit die qualitative Bereitschaft zur Aufnahme. Es liegt auf der Hand, sich auf solche Informationen per Werbebotschaften dann einzulassen, wenn ein solcher „Slowmedia-Status“ gerade vorherrscht, also eine bewusste konzentrierte, aber entspannte Aufnahmesituation für relevante und semi-relevante Inhalte.

Teilen Sie also die Wahrnehmung, dass Konsumenten wieder stärker selbst bestimmen möchten, wann und wo sie Werbung wahrnehmen wollen? Und wie sollten Werbungtreibende darauf reagieren?

Die meisten digitalen Werbemechanismen verraten ein verarmtes Menschenbild als Response-Wesen für immer bessere und eindeutigere Stimuli. Die Autonomie und Resilienzfaktoren werden dabei völlig außer Acht gelassen; daher verpufft vieles, wird aber gerne als implizites Wirkungspotential verwertet.

Immer mehr, immer schneller, immer schriller: Die neue Fachkampagne der Zeitungen stellt dem Prinzip „Mad-vertising“ das Prinzip „Slo-vertising“ gegenüber. Wie kann Slo-vertising den Fokus des Lesers auf die Zeitung am besten nutzen?

Zeitungslektüre erwartet eine konzentrierte Hingabe zum Medium, ein Verhalten, das bei den meisten, auch neuen digitalen Medienangeboten nicht mehr notwendig ist. Das Prinzip „Slo-vertising“ setzt genau dort an, wo eine ganzheitliche rationale wie emotionale Zuwendung zum Medieninhalt entsteht, und das geht nur dort, wo ich mich gegenüber der Umwelt abschotten und in eine eigene konzentrierte Gedankenwelt eintauchen kann.

Kann die Zeitung als Marke – gedruckt, online und mobil – nicht allen Nutzungssituationen gerecht werden?

Ich kann mir Slo-vertising ohne gedruckte Exemplare nicht vorstellen, was in meiner Mediensozialisation seine Begründung findet. Die große Herausforderung für die Zeitung besteht, die konzentrierten Nutzungssituationen auch auf digitale Angebotsformen auszudehnen. Das ist nicht einfach.

Glauben Sie, dass es im Zuge der wachsenden Schnell- und Kurzlebigkeit medialer Eindrücke so etwas wie einen Retrotrend gibt? Also die Rückbesinnung auf Qualitätsmedien, die für Ruhe, Konzentration und Nachhaltigkeit stehen?

Ja, auf jeden Fall, das ist bereits im Manifest des Slow Media Instituts so niedergeschrieben; und in Phasen individueller wie politischer Krisen geben genau diese Medien heute noch die benötigten Rückzugs- und Orientierungshilfen. Ich bin davon überzeugt, dass die digitale Nutzung von Medienangeboten individuell einer wachsenden Rationalisierung unterliegt, die sich schon in den nächsten zehn Jahren verdeutlichen wird.

Prof. Hans Georg Stolz zählte zu den profiliertesten Köpfen der Mediabranche. Er war Gründer und Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Stolz – Brands & Friends & Media und seit 2000 Vorstandsvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. (agma), außerdem Sprecher der Organisation der Media-Agenturen (OMG). Im März 2015 ist Hans Georg Stolz verstorben. Er bleibt uns in Erinnerung als einer der führenden und wegweisenden Media-Experten in Deutschland.

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