„Interessant zu sein ist immer zeitgemäß“

Christian Mommertz, Executive Creative Director Europe, Spark44 (Frankfurt), im Gespräch mit Joachim Donnerstag, Leiter Marktkommunikation, BDZV (Berlin).

Von der Verführungskunst der Longcopy-Anzeige: Christian Mommertz über ein Werbeformat, das nicht flüchtig ist – und gut zur Zeitung passt.

Eine Werbeanzeige mit einem Text, der mehr als fünf Sätze umfasst – ist das noch zeitgemäß? Sind Leser in Zeiten der eher flüchtigen Internet-Lektüre nicht besser mit kurzen, knackigen Botschaften zu begeistern? Nicht unbedingt, meint Christian Mommertz, Europa-Kreativchef bei Spark44. Er findet, dass die Longcopy-Anzeige eine Gestaltungsvariante ist, die gerade in der gedruckten Zeitung große Wirkung entfalten kann. Ein längerer, informativer Werbetext entspricht dem Nutzungsmodus der Zeitung und wird daher gut akzeptiert, er nutzt die Glaubwürdigkeit des Mediums und kann so einen starken Eindruck hinterlassen. Allerdings ist die gelungene Umsetzung der Longcopy für Kreative eine besondere Herausforderung. Warum, erläutert Mommertz im Interview.

In Zeiten einer explodierenden Informationsmenge und damit verbunden auch immer kürzerer oder auch verkürzter Botschaften stellt sich die Frage: Was reizt Sie als Kreativer an einer Longcopy?

Zu einer Informationsflut gehören immer zwei: Die flutende Information. Und der fehlende Damm. Insofern gibt es die viel beschworene Informationsflut nur bedingt. Denn es wird nach Kräften ausgeklammert, übersehen, verdrängt, ignoriert, weggeklickt, geblockt. Ob eine Longcopy gelesen wird oder nicht, hängt erst mal nicht vom Leser ab. Sondern vom Autor. Das gilt für jeden Text. Was einen Kreativen daran reizt? Gottlob bin ich kein Texter. Aber natürlich ist die Longcopy die Königsdisziplin. Quasi das Kap Hoorn des Textens. Und mit Sicherheit ein Prüfstein dafür, ob man gut in seinem Job ist.

Welche Vorteile – und vielleicht auch Nachteile – sehen Sie in dieser kreativen Gestaltungsform?

Es wurde ja mal behauptet, dass der, der etwas Wichtiges zu sagen hat, keine langen Sätze macht. Für den, der viel zu verschweigen hat, mag das eine erlösende Selbsttäuschung sein. Allerdings hat der Schrei nach Liebe selten den gleichen Effekt wie ein Liebesbrief. Wer mir zutraut, etwas zu lesen, dem trau ich auch zu, etwas zu schreiben. Wer sich um mich bemüht, der ist die Mühe vielleicht wert. Und wer erkennbar nicht jeden meint, meint vielleicht mich.

Sind längere Texte in der Werbung noch zeitgemäß? Oder ist diese kreative Form überholt?

Ehrlich gesagt: Heute wimmelt es von Headlines, die mit einem Drittel an Worten auskämen. Umgekehrt finden sich in Londons U-Bahn sogar Plakatflächen mit Longcopys. Texte, die mit bis zu 2000 Anschlägen die komplette Fläche füllen. Offensichtlich ist das, was da steht, von Interesse. Fest steht: Interessant zu sein ist immer zeitgemäß. Das gilt vor allem für alles, was überrascht, aus dem Rahmen fällt, sich nicht um den Zeitgeist schert. Was niemals zeitgemäß ist: Teuer bezahlte Langeweile, Vulgarität, Dummheit, Hässlichkeit, Irrelevanz. Alles Dinge, die sich mit einer Longcopy ganz gut vermeiden lassen.

Ist Longcopy nicht der Vorläufer des heutigen „Storytellings“?

Je nachdem, was man sich unter Storytelling vorstellt. Selten weiß ich, was Menschen, die den Begriff verwenden, sich unter dem Begriff vorstellen. Oft weiß ich, dass es diesen Menschen genauso geht.

Immerhin: Die ersten Printanzeigen überhaupt waren Longcopys, die tonnenweise Testimonial-Geschichtchen vom Stapel ließen. Im 19. Jahrhundert wurde da in ganzseitigem Bleisatz ausgewalzt, welche Wundertaten ein Heilwässerchen hatte. Quasi die Printversion des Home Shopping TV. In Form von „Advertorials“ geisterte das 19. Jahrhundert dann noch mal als Atavismus durch die 2000er Jahre. Mit der Verführungskunst der Longcopy hatte das freilich weniger zu tun.

Welche Chance geben Sie künftig längeren Texten in der Werbung?

Die besten Chancen, gelesen zu werden, haben Werbetexte, die nicht wie Werbetexte daherkommen: Die Bergpredigt, ein Liebesbrief, ein True-Fruits-Etikett. Es gibt sie noch, die langen Texte. Und es gibt sie weiterhin.