Prospekte vs. Kundenapps: Die Zukunft heißt nicht 'No Print', sondern 'Smart Print'

Der Prospekt bleibt für die Marketing-Kommunikation des Handels unverzichtbar, glaubt der Frankfurter Marktforscher Dirk Engel. Er sieht noch viel ungenutztes Potenzial in der Prospektwerbung. © Foto: Natalie Färber

Wie Händler ihre Kundschaft am besten erreichen, wird derzeit heftig diskutiert. Gesucht ist die optimale Balance von gedruckter und digitaler Werbung. Wie die aussehen könnte, erläutert Marktforscher Dirk Engel im Interview mit "Die Zeitungen".

Für Rewe sind gedruckte Prospekte ein Auslaufmodell, die Baumarktkette Obi hat den Schritt schon vollzogen. Verbraucher sollen künftig vorwiegend über hauseigene Kunden-Apps erreicht werden. Ob das gelingen kann und wie er die Zukunft der Printwerbung einschätzt, beantwortet Marktforscher Dirk Engel im Interview.

Rewe hat angekündigt, ab Mitte 2023 auf gedruckte Prospekte und Handzettelwerbung zu verzichten und sie durch eine verstärkte Angebotskommunikation über digitale Kanäle und Anzeigen in klassischen Medien zu ersetzen. Sehen Sie das als Auftakt zu einer Abkehr von Print in der Handelskommunikation?

Dirk Engel: Das ist kein Auftakt, denn die Werbebudgets werden schon lange von Print hin zu digitalen Kanälen verschoben. Höhere Zustell- und Papierkosten erleichtern den Händlern derzeit die Entscheidung, Prospekte zu reduzieren und andere Medien zu verstärken. Rewes Ankündigung ist offensichtlich Teil der aktuellen Werbekampagne, in der sich das Unternehmen als Vorreiter der Nachhaltigkeit positionieren möchte. OBI hatte zuvor schon Ähnliches angekündigt. Das ist noch keine Welle, aber doch ein deutliches Signal: Prospektwerbung ist keine heilige Kuh. Das müssen auch die Verlage ernst nehmen. Positiv formuliert ist es nicht die Abkehr von Print, sondern die Erweiterung des Media-Mixes.

Wie positionieren sich andere Handelsunternehmen?

In der Fachpresse haben viele Unternehmen und Experten immer wieder auf die hohe Effektivität von Prospektwerbung hingewiesen. In der Vergangenheit versuchten viele Händler zwar, zeitweise auf Prospekte zu verzichten oder sie zu reduzieren. Meist sind sie allerdings zum Handzettel zurückgekehrt. Der Grund dafür liegt darin, dass kein anderer Kanal Prospektwerbung völlig ersetzen kann – digitale Werbung und Apps funktionieren anders und erreichen nicht alle Prospektnutzer. Deshalb werden nur wenige dem Rewe-Beispiel eines Totalverzichts folgen. Doch ich bin sicher, dass viele den Print-Anteil reduzieren werden.

Die individualisierte Ansprache über hauseigene Apps soll bei Rewe künftig einen Schwerpunkt in der Kommunikation mit Verbrauchern bilden. Das ist eine Neuausrichtung der Kundenansprache. Wie erfolgreich schätzen Sie das ein? Und was glauben Sie, wie es bei den Konsumenten ankommt?

Nicht jeder nutzt gerne und regelmäßig Apps. Wir alle haben einen regelrechten App-Friedhof auf unseren Smartphones – einmal runtergeladen, danach kaum noch verwendet. Die App-Nutzung zu stimulieren wird eine große Aufgabe, die teuer mit Coupons und anderen Verkaufsförderungs-Tricks bezahlt werden muss. Die Forschung aus ganz unterschiedlichen Quellen zeigt immer wieder, dass viele Deutsche Prospekte besonders schätzen – sie liefern Überblick, helfen, Einkaufstouren zu planen, sie dienen als Einkaufszettel oder Reminder an der Kühlschranktür, sie sind ein Morgenritual und liefern Anregungen für das Familien-Menü. Es gibt Menschen, die auf Prospekte warten und sich bei der Tageszeitung beschweren, wenn sie einmal nicht beigelegt sind. Das ist eine besondere Involviertheit, die es bei anderen Werbemedien kaum gibt. Ich zumindest kenne niemanden, der sich bei einer Website wegen eines fehlenden Werbe-Banners beschwert hätte.

Immer wieder wird der Umweltaspekt beim Verzicht auf Print angeführt. Nachhaltigkeit muss ohne Zweifel auch für den Handel eine Leitmaxime sein. Aber ist das nicht ein wenig verkürzt argumentiert und der ökologische Fußabdruck von Digital wird weithin unterschätzt?

Das Thema ist komplexer, als viele denken. Es ist ein Mythos, dass digitale Inhalte ohne Materie und Energie auskommen. Man denkt, wenn sie in der „Cloud“ sind, dann schweben sie weitab von der dreckigen Erde. Tatsächlich braucht die digitale Welt Strom, Server, Kabel, Gebäude, Kühlanlagen und so weiter. In unseren Smartphones stecken seltene Erden, die anders als Bäume nicht nachwachsen. Doch einen Punkt haben die Print-Gegner: Es werden zu viele Prospekte gedruckt, die ihren Zweck nicht erfüllen. Ihr Weg geht vom Briefkasten oft direkt in die Altpapiertonne – bei schlechter Verteilqualität landen sie sogar vorher schon auf dem Müll.

Geht es bei der Abkehr von Gedrucktem auch um Kostenaspekte wie steigende Papierpreise, höhere Zustellkosten u.a.?

Ja, wie schon angedeutet. Solche Kostenaspekte darf man nicht beiseite wischen, sie sind im Handel mit seinen geringen Margen existenziell. Deshalb gibt es drei gute Gründe, die Papierberge zu reduzieren und die Prospektverteilung zielsicherer zu machen: Erstens die wachsenden Kosten, zweitens den Nachhaltigkeits-Aspekt und drittens das veränderte Mediennutzungsverhalten vieler Zielgruppen. Die Aufgabe besteht nicht darin, Printwerbung abzuschaffen, sondern sie muss wirksamer und effizienter werden. Die Zukunft heißt nicht „No Print“, sondern „Smart Print“.

Ganz grundsätzlich: Was macht eine erfolgreiche Mediastrategie aus? Welche Funktion kann Print, welche können die digitalen Kanäle im Mediamix übernehmen?

Digitale Kanäle helfen, bei einem konkreten Anlass etwas zu finden. Apps können Stammkunden gute Dienste leisten. Bestimmte Zielgruppen, die gar nicht mehr in ihren Briefkasten schauen, weil sie weder Zeitungen noch Briefe bekommen, können angesprochen werden, auch über soziale Medien. Und einige nutzen auch die digitalen Angebots-Plattformen, um Preise zu vergleichen. Prospekte dagegen erreichen ältere Zielgruppen besonders gut, aber auch viele andere Bevölkerungsgruppen. Sie sprechen anders als Apps nicht nur Stammkunden, sondern auch gelegentliche Käufer an. Und sie zeigen eine Angebotsvielfalt, für deren Breite in anderen Medien Zeit und Aufmerksamkeit fehlen. Bei einer kreativen Gestaltung, an der es zugegebenermaßen vielen Prospekten fehlt, können Prospekte Imageträger sein und zur Kundenbindung beitragen. In der prädigitalen Ära war Printwerbung unangefochten. Die Digitalisierung hat aber nicht nur Online-Werbung geschaffen, sondern auch die Werbemöglichkeiten anderer Medien verändert. Das merken wir gerade bei Addressable TV und Digital-Out-of-Home. Die Printbranche hat die Möglichkeiten, die die Digitalisierung zur Verbesserung ihrer Printprodukte liefert, oft noch gar nicht verstanden und erst recht nicht ausgeschöpft.

Wie schätzen Sie die Zukunft der Handelskommunikation ein und mit welchen Maßnahmen oder Angeboten können Verlage und Publisher die Werbekunden unterstützen?

Ziel muss es sein, den Kunden die Informationen, die sie haben möchten, in der für sie angemessenen Form zu liefern. Personalisierte Prospekte, die dezentral gedruckt und nicht per Gießkanne verteilt werden, wären so eine Möglichkeit. Warum nicht bestimmte Prospekte abonnieren und andere nicht? Wieso nicht einen QR-Code am Briefkasten haben, der dem Zusteller schnell zeigt, welche Prospekte eingeworfen werden dürfen und welche nicht? Über Opt-In-Lösungen denken schon viele Kommunen nach – die Verlage sollten das nicht als Gefahr, sondern als Chance für smartere Wege zum Konsumenten sehen. Denn Prospekte sind ein Vorteil von Zeitungen und Anzeigenblättern. Diese sollten die Handelsunternehmen dabei unterstützen, Prospekte so attraktiv wie möglich zu machen – in Sachen Gestaltung, Nutzwert, Navigation, Relevanz. Ein Veganer will keinen Schweinebauch im Prospekt und ein Hundebesitzer kein Katzenstreu. Prospekte können Appetit machen, wenn man etwas Sorgfalt auf Design, Bilder und Texte legt. Und sie sollten mit digitalen Kanälen vernetzt werden. Man muss die Sicht der Konsumenten einnehmen, denn um die geht es – nicht um die dezentrale Entsorgung von Altpapier oder das Einsparen von ärgerlichen Kosten. Handelskommunikation muss noch smarter werden, da haben die Prospekte einen Nachholbedarf.